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Latein ist bis auf wenige Ausnahmen heutzutage keine Kommunikations-, sondern eine Reflexionssprache. Darin liegt ihr großer Wert, schärft das Übersetzen doch notwendig den Blick für die Eigentümlichkeiten der fremden wie der eigenen Sprache und fördert so entscheidend die muttersprachliche Kompetenz.
Das so genannte  "mikroskopische", also genaue und kleinschrittige Lesen, erlaubt die Feststellung sprachlich-stilistischer Feinheiten, eine Lesemethode, die in der Muttersprache und den modernen Fremdsprachen nicht ohne weiteres geläufig ist. Diese besondere Konzentration auf den Text schärft den Blick für Strukturen, macht aber zugleich auch den ästhetischen und funktionalen Wert von Sprache deutlich.
Die antike Literatur bewegte sich innerhalb fester Gattungskonventionen; insofern stellt sich bei der Lektüre eines jeden Originaltextes die Frage nach dem spezifischen Umgang des Autors mit den Erwartungen, die der Leser an die gewählte Gattung stellte. Neben dem Kennenlernen dieses Modells von Freiheit innerhalb eines festgefügten Regelschemas befassen sich die Schüler mit dem auch für die Literatur der Gegenwart und Postmoderne wichtigen Phänomen der Intertextualität.
An dem bedeutenden Umstand, dass es sich bei den Texten nicht um Autographen der Autoren, sondern um Abschriften handelt, wird den Schülern exemplarisch auch das Phänomen der Textüberlieferung und Textkonstitution deutlich.
Da es sich um Texte handelt, die über zweitausend Jahre zurückliegen, trainieren die Schüler auch hermeneutische Fähigkeiten, indem sie den jeweiligen historischen Kontext mitberücksichtigen müssen. Sie erfahren, dass es verschiedene Verständnisebenen eines Textes gibt, je nach Vorbildung des Rezipienten.